Schaykale - Ein Gedenkstein
Otto Seidmann
(Aus Miniaturen, Bukarest 1962)
Schaykale war sieben Jahre alt,
als man ihn zum Massengrab führte. Er trippelte auf
seinen dünnen Kinderbeinchen neben seiner
Mutter her und konnte kaum Schritt halten. Die Gendarmen trieben zur
Eile an, denn die Jujinezer hätten erst am darauffolgenden Tag gemordet
werden sollen; es waren ihrer
162, Männer, Frauen und Kinder. Der Gendarmeriewachtmeister und seine
Spießgesellen waren aber mit dem Blutbad
in Schischkowitz (Schischkoutz, Anm.
der
Red.) - eine Nachbargemeinde -
früher
fertig geworden, als sie dachten, und, da sie mal gut in „Form” waren
und
der Nachmittag eben erst angefangen hatte, beschlossen sie, ihr
heldenhaftes
Tagewerk mit dem Ermorden der 162 wehrlosen Menschen aus Jujinetz
(Juzinetz,
Anm. der Red.) zu krönen.
Als man sie in wilder Eile zusammentrieb, glaubten
die meisten von ihnen, in ein Lager geführt zu werden; denn seit die
faschistischen Mordbanden im Gefolge des Krieges eingezogen waren - und
dies war vor weniger als einer Woche geschehen -, sprach man nur
noch von Sammellagern, Konzentrationslagern, Arbeitslagern ...
Schaykale allein wußte die Wahrheit. Er kannte
genau das Ziel, aber er schwieg. Auf seinen abenteuerlichen
Herumtreibereien
war er heute morgen über Wege und Stege, die nur er kannte - es war
den „Geächteten” verboten worden, ihre Häuser zu verlassen -, unbemerkt
von jedermann bis nahe an den Waldrand von Schischkowitz gekommen.
Er sah das offene Massengrab, er sah zwei Maschinengewehre, er sah die
herumlungernden Gendarmen. Wenn auch sein kindlicher Verstand nicht
alles erfassen konnte, so ahnte er doch das Unfaßbare, das sie
erwartete.
Am Spätnachmittag jagten die bewaffneten Henker einen Haufen Jammer mit
Kolbenstößen und Knutenhieben über die staubige Dorfstraße dem Tode entgegen.
Schaykale verlangte es, die warme Nähe seiner Mutter zu fühlen. Er
klammerte sich mit beiden Händchen an ihre große Rechte.
Seinen Vater hatte Schaykale kaum gekannt. Als man ihm in den Jahren
der „Neuordnung” und „Nationalen Wiedergeburt” sein Heimatrecht nahm
und mit diesem
auch jede Möglichkeit zum Erwerb des täglichen Brotes, setzte er
seinem Leben ein Ende. Er erhängte sich auf dem Dachboden seines Hauses.
Schaykales Großvater, der Vater seines Vaters, begann sich damals
um Schaykales Erziehung zu kümmern. Das gefiel seiner Mutter nicht;
denn Schaykales Großvater wurde der „Trunkene” genannt. Trunken von
Wein war er wohl nie. Er war trunken von Gotteseifer. Zweimal im Jahr
konnte
man ihn so sehen: Zum Feste der Lehre und in der Osternacht, wenn er
den
Lobgesang auf den Herrn anstimmte.
Schaykales Mutter wandte sich um und suchte den Alten im dahinjagenden
Haufen. Sie erblickte ihn ganz hinten. Schicksalergeben humpelte der
Gottesfürchtige, gebrechlich und zittrig, gestützt von ihrem
zehnjährigen Sohn, Schaykales
älterem Bruder.
Sie verließen die Dorfstraße, und man jagte sie über freies Feld. Sie
näherten sich dem Schischkowitzer Waldrain, der Stätte, die Schaykale
am Morgen erspäht hatte.
Jemand schrie gellend auf: „Ein Massengrab!”
Dann schrie jemand verzweifelt: „Maschinengewehre, Hilfe, Menschen,
Hilfe!!” Es war der Hilfeschrei eines Menschen an die gesamte
Menschheit.
Der Zug stockte, viele warfen sich zu Boden, andere stolperten über sie
und fielen, sie wurden hochgeprügelt, andere wollten flüchten und
wurden im Laufen abgeschossen.
„Und es fing an ein Jammern”, so berichtete jemand, „daß uns Bauern,
die wir in den umliegenden Dörfern wohnen, das Blut in den Adern
erstarrte.”
Schaykale preßte sich dicht an seine Mutter.
Als das Gemetzel begann, schützte sie ihn bis zum letzten Augenblick
ihres Lebens mit ihrem Leibe. Dann stürzte sie. Schaykale lebte noch.
Er hockte sich neben seine tote Mutter und wartete auf sein Ende. Kein
Laut kam über seine Lippen und keine Träne aus seinen Augen.
Schaykale hat bis zum letzten Augenblick seines armen kleinen Lebens
nicht geweint.
„Und lange noch bewegte sich die Erde über diesem Massengrab”, so
berichtete ein Augenzeuge, „durch die Zuckungen jener, welche lebend
oder nur halbtot verscharrt worden waren.”
Hundertzweiundsechzig Menschen ruhen im Massengrab von Jujinetz.
Schaykale, seine Mutter, sein Bruder, sein gottesfürchtiger, trunkener
Großvater; und etwas hat Schaykale auch von mir mit sich hinabgenommen.
Zwischen Schaykale und mir bestand eine Verbundenheit, von der er wohl
kaum etwas wußte.
Es war zur Kirschenzeit, ein Jahr vor dem Massaker. Ich lag im
Obstgarten unter einem Baum und blickte sorglos in die üppigen
Baumkronen.
Schaykale kam von der Dorfstraße über den
Zaun geklettert, äugte pfiffig um sich und stieg behend auf den
nächsten Kirschbaum. Nach einer großen Weile kam er sachte
hinabgestiegen.
Sein Hemdchen war innen rings um den Gürtel bis zum Halsausschnitt
hinauf prall von Kirschen.
Weder Wut noch Empörung fühlte ich bei seinem Anblick in mir
hochsteigen. Ich erhob mich, packte ihn und zog ihm das Hemdchen aus
den kurzen Hosen. Die Kirschen fielen rings um ihn zur Erde.
Erst blickte er mich voller Entsetzen an, dann senkte er beschämt seine
großen Augen und begann still zu weinen. Damals hatte Schaykale geweint.
Es waren ehrliche, große Kindertränen, die er weinte.
Als ich ihn so elend mitten in der lachenden Kirschenpracht stehen sah,
kam mir das Erbärmliche meiner Tat zum Bewußtsein. Ich neigte
mich sogleich zur Erde, um die Kirschen einzusammeln und sie Schaykale
zurückzugeben. Er aber verließ schluchzend, langsam den Garten.
Ich stand da mit einer vorgestreckten Hand voller Kirschen und blickte
betroffen dem kleinen Menschlein nach, dem ich so großes Leid zugefügt
hatte.
Schaykale starb und ich blieb in seiner Schuld. Nein! Schaykale starb,
und wir blieben in seiner Schuld, wir, die wir damals nichts
unternahmen, um dem
Morden Einhalt zu gebieten.
Ich habe Schaykale diesen kleinen Gedenkstein errichtet; ihm und allen
anderen Kindern, ob sie Pierre, Wanda, Hendrik, Katja oder anders
hießen und in den Jahren des Grauens 1939 - 1944 hingeschlachtet,
vergast oder erschlagen wurden.
Ein Gedenkstein für die Kinder - ein Mahnstein für uns.