Das
Gehirn des Journalisten
von
Karl Hauer
(1875-1919)
Erschienen in "Die Fackel" Nr. 230 - 231, 15. Juli 1907
Herausgeber Karl Kraus
Der
Autor:
Ein Bohemien und Bürgerschreck aus wohlhabendem Salzburger Elternhaus,
mit dem Trakl 1911 im Dunstkreis der "Literatur- und Kunstgesellschaft
Pan" nähere Bekanntschaft pflegte. Hauers Publikationen (1910 die
Essaysammlung "Von fröhlichen und unfröhlichen Menschen") bezeugen in
ihrer kultur- und gesellschaftskitischen Tendenz eine
dialektisch-scharfe Intelligenz. Er lieferte häufig Beiträge zur Wiener
Zeitschrift "Die Fackel". Der ebenso brillante wie morbide Polemiker
erlag am 19. August 1919 in Hall in Tirol der Schwindsucht.
"Die Presse, die Maschine, die
Eisenbahn, der Telegraph sind
Prämissen, deren tausendjährige
Konklusion noch niemand zu
ziehen gewagt hat."
Nietzsche
Tausend Jahre Zeitungen - es ist ein Gedanke, den man nur mit Grauen
denken mag! Wird es, kann es nach dreißig Generationen von
Zeitungslesern noch eine Vernunft, einen Geist auf Erden geben? Einen
Geist, der mehr ist als die tote, verschliffene Hülse geistloser
Gemeinheit? Die schlimmsten Befürchtungen sind hier immer noch nicht
schlimm genug. Mit der Geburt des Tagschreibers aus der
Geistverlassenheit des Dünkels schloß sich der Ring der modernen
demokratischen Unkultur. Und diese Spottgeburt, die sich durch Lumpen
und Schwärze fortpflanzt, mußte notwendigerweise erfolgen, sobald die
unseligsten aller Erfindungen die Voraussetzungen hiezu geschaffen
hatten. Der Zwang, in irgend einer Hinsicht ein Fürsichstehender, ein
Eigner seiner selbst zu sein, ist dem Massenmenschen jederzeit eine
unerträgliche Last gewesen; immer hat dieser es als Wohltat empfunden,
sich sein Denken, Handeln und Fühlen vorschreiben zu lassen. Aber
niemals - auch nicht zur Zeit der kirchlichen Allmacht - ist die
intellektuelle und ethische Kastration der Menschheit mit so
durchschlagendem Erfolg versucht worden, wie von den unverfrorenen
Faiseuren, die jetzt mit Hilfe einer wahrhaft schwarzen Kunst der Masse
das lästige eigene Denken und Betrachten abnehmen und das Surrogat
hiefür täglich zweimal ins Haus schicken. Gab es jemals ein
glänzenderes Geschäft? Der hungernde Philister versagt sich ein Stück
Brot, um ein Zeitungsblatt zu kaufen. Heute bereits ist die Lesemanie
so allgemein verbreitet, daß die meisten Menschen einen Großteil ihrer
Muße mit dem Verschlingen von Nachrichten und Betrachtungen ausfüllen,
zu denen sie nicht die geringste innere Beziehung haben. Sie
verschlingen die fragwürdigste geistige Kost ohne jede Not und ohne
jede Möglichkeit der Verdauung, die schon wegen der übermäßigen
Quantitäten ausgeschlossen ist, auch wenn die Nahrung selbst verdaulich
wäre. Gibt es ein besseres Rezept zur schnellsten Erlangung der
gründlichsten Stupidität? Und nun denke man an die Folgen dieser immer
mehr sich verbreitenden und immer intensiver sich gestaltenden Praxis
nach tausend Jahren! . . .
Die
Kirche, die Vorgängerin der Presse in der Herrschaft über den Intellekt
der Masse, hatte wenigstens ein Ideal, wenngleich ein
lebensfeindliches. Sie besaß auch einen Geist, obgleich nur einen
kranken, sie erschuf auch eine unvergängliche Kunst. Innerhalb der
kirchlichen Allmacht war noch eine Kultur möglich. Der Kastratismus der
Kirche war wenigstens ein System, der Kastratismus der Presse aber ist
Unsinn und Gemeinheit als "Selbstzweck", wie der Ausdruck für alle
moderne Sinn- und Systemlosigkeit lautet. Die Kirche stand allezeit
über den Gläubigen, die Presse kann ihre Macht nur erhalten, wenn sie
den geistigen Tiefstand der Masse faktisch verkörpert. Die Popularität
der Kirche war Klugheit, die Popularität der Presse ist wirkliche
Gemeinheit, die Presse ist des Pöbels. Was der Zeitungsleser in den
Blättern sucht und findet, ist der Abklatsch seiner eigenen
Niedrigkeit, welche Welt und Leben von gesicherter Futterkrippe aus als
ein weitläufiges Panoptikum für nimmersatte Gaffer betrachtet. Der
Genius der Kultur wandte sich ab, als die Menschheit die Religion mit
der Zeitung vertauschte. Aber dieser Tausch war ein unabweisliches
Schicksal. Die Presse ist da, sie wächst, sie überwuchert alle Gebiete
des Lebens, und der Tagschreiber löst den Pfaffen ab. Die Welt muß sich
dafür interessieren, wie es in dem Gehirn aussieht, aus dem sie neu
erschaffen ward: in dem Gehirn des Journalisten.
Es ist eine wenig erfreuliche Spezies Mensch, aus der die Tagschreiber
sich rekrutieren. Es sind bestenfalls Menschen mit Ehrgeiz und
Unternehmungslust ohne Rückgrat und Willen, Leute mit einem Zuviel an
Phantastik und Überhebung, um es in einer bürgerlichen
Nützlichkeitsexistenz auszuhalten, und mit einem Zuwenig an
Verstandeskraft, Geschmack und Bildung, um im Geistigen und Kulturellen
auch nur Kleines zu bedeuten. Es sind im bürgerlichen Sinne
Deklassierte, im geistigen Sinne sterile Parasiten der wirklichen
Bildung, Nebelgehirne, undisziplinierte Wildlinge mit
Vandaleninstinkten. Wer irgendeine tiefere Bildung, wer auch nur das
bescheidenste intellektuelle und ethische Reinlichkeitsgefühl besitzt,
kann kein tauglicher Journalist werden. Bildung ist nämlich ein
Hindernis für die journalistische Fixigkeit, sie untergräbt die dreiste
Selbstgefälligkeit, die über alles so leicht und sicher urteilt.
Bildung ist ein retardierendes Prinzip: die Erziehung zur Vorsicht im
Urteil. Sie hält davon ab, einen Einzelfall bedenkenlos zu
verallgemeinern oder eine Regel auf jeden Einzelfall zu beziehen. Die
Bildung hat mit einem Wort Vorurteile, der Journalismus aber ist
"vorurteilsfrei". Bildung verantwortet Urteile schwer und zögernd, der
Journalismus verantwortet ohne weiteres alles und jedes.
Mit wirklicher Bildung kein Journalist, mit wirklicher Bildung daher
auch kein Schriftsteller, kein Dichter, kein Künstler, kein Gelehrter
nach dem Herzen der Zeitungskritiker. Es ist leicht zu erraten, was für
eine Art von Literatur, Kunst und Wissenschaft die Presse propagiert,
was für Leute sie am begeistertsten lobt: Alles, was mit ihr verwandt
ist. Es gibt viele und darunter nicht wenig berühmte Schriftsteller,
Künstler und Gelehrte, die ihren Ruhm nur ihrem Mangel an tieferer
Bildung und Einsicht verdanken. Aus diesem Mangel stammt jenes leichte
Urteil, jene Bedenkenlosigkeit der Dummheit, jene kecke Geschwätzigkeit
und aufdringliche Schamlosigkeit, die von der Ignoranz immer wieder mit
Temperament, Mut des Geistes und künstlerischer Naivität verwechselt
wird. Solche Berühmtheiten wirken im Grunde mit den Mitteln des
Journalismus, sie sind dem Tagschreiber verwandt, - es sind vielfach
nur entsprungene Tagschreiber . . .
Die Bildung ersetzt der Tagschreiber durch ein spezifisches Gedächtnis,
durch ein Notizbuch oder einen Zettelkasten. Aus aufgeschnappten Namen
und Aussprüchen, schlechtgehörten Urteilen und schlechtgelesenen
Berichten, zusammenhangslosen Begriffen und Historien, aus
schiefgesehenen Tatsachen, aus fünfzig gangbaren Phrasen und mit dem
Zubehör des eigenen Fetzenwissens webt er die Ellen seiner
Arbeit. Man darf billigerweise nicht übersehen, daß auch unser moderner
Schulmechanismus kein anderes als ein solches Phrasenwissen
hervorbringt, daß die Schule alles tut, die unheilvolle Verwechslung
von Bildung (d. h. Zucht der Sinne und des Intellekts, um richtig sehen
und denken zu lernen) mit wertlosem Gedächtnisballast und
papageienhafter Nachplapperei vorzubereiten. Die Schule, die von jeder
Ecke der Welt einen Theoriefetzen und von jedem Ding wenigstens den
Namen in uns hineinstopfen will, verführt die Masse dazu, die
Zeitungslektüre für die natürlichste Fortsetzung der "Bildung" zu
halten. Der Tagschreiber hält heute den Posten für "Ausbau der Bildung"
besetzt. Die Zeitung ist das Schulbuch der Erwachsenen. Und der
Tagschreiber ist der Lehrer der großen Masse.
Allem, was heute als Bildungsfaktor gilt, der Zeitung, der Schule, der
Reisewut, den Ausstellungen, dem unmäßigen und sterilen Kunstbetrieb,
all dem haftet der Fluch des Vielzuviel an. Wir liegen vor der
Quantität auf dem Bauch, wir haben völlig vergessen, daß die
eigentliche Geistigkeit, die innere Kultur gerade in der Abwehr des
Zuvielen, des Angehäuften, in der Beschränkung auf das Wenige, das
Verdauliche besteht. Wir haben die Bildung zu einem
Kinematographentheater umgestaltet, in dem auf einem endlosen Film eine
Kette von wahl- und zusammenhangslosen Momentbildern sich abhaspelt.
Und wir ergötzen uns an dem Hastigen, Flimmernden, Unruhigen,
Flüchtigen und Halbgesehenen . . .
Der Journalist ist nicht ein Schriftsteller aus innerm Zwang, sondern
ein Schreiber, der einem Druck von außen gehorcht. Er schreibt nicht,
weil er etwas zu sagen hat, sondern er sagt immerfort etwas, weil er
schreiben muß. Und er hat beim Schreiben das Gefühl, nicht das sagen zu
müssen, was er für richtig hält, sondern das, was "man" heute für
richtig hält und was übermorgen bestimmt nicht mehr wahr ist. Der
Tagschreiber hält beim Schreiben nicht Gericht mit sich selbst und
jenem "Man", sondern schielt ängstlich nach dem Leser, den er schon
über seine Schultern gucken sieht. Beim Schriftsteller besteht zwischen
Person, Stoff und Form ein organischer Zusammenhang. Das Verhältnis des
Tagschreibers zu seinem Stoff aber ist ein durchaus widernatürliches
und gezwungenes. Die Auswahl des Stoffes ist bereits ohne ihn
vollzogen: er ist abhängig von der Augenblicksgegenwart, von der
Aktualität, vom Vordergrund; er hat nur innerhalb des Heute, des
"Modernsten" eine Auswahl. Das Heute, der Gischt der Unmittelbarkeit,
ist aber gerade das Noch-nicht-zu-Beurteilende, ist dasjenige, was von
einem Betrachter, der die Wahrheit und das Wesen einer Sache zu
ergründen sucht, mit der feinfühligsten Behutsamkeit und dem kühlsten
Mißtrauen aufgenommen werden muß. Dem Tagschreiber ist es nicht im
geringsten um die Wahrheit zu tun - er führt dieses Wort, wie alle
schönen Worte, im Munde -, sondern nur um Urteile überhaupt, um
Urteile, die lediglich durch die Aktualität der beurteilten Substanz
interessieren. Was weiß er von der vorsichtigen Gelassenheit, mit der
ein geschulter Denker seinem Problem gegenübertritt, von der
unbeirrbaren Geduld und zarten Unerbittlichkeit, mit der er es
allmählich entwirrt und faßlich macht? Wie hätte der Schreiber des
Tages auch nur die Muße zu wirklicher Denkarbeit! Er hat zu schreiben,
nicht zu denken. Er kriecht auf den schwierigsten Problemen so
geschäftig herum wie die Made auf dem Käse, um sich davon zu nähren und
sie überdies noch zu beschmutzen. Der Ernst einer Sache schreckt ihn
niemals ab; er hat nur einen Ernst: mit den Brocken, die er der Masse
hinwirft, ihren Geschmack zu treffen, vor der Masse recht zu behalten,
maßgebend zu sein, eine Macht zu sein, mit der man sich verhalten muß!
Er sagt mit Pilatus: Was ist Wahrheit! Er fühlt sich als Anwalt einer
Majorität, er stützt sich nicht auf Gründe, sondern auf die Mode, auf
das unisone Geschrei des Tages.
Die Presse hat mit Vernunft und Wahrheit nichts zu tun, sie schlägt
ihnen täglich ins Gesicht; sie sorgt für den Obskurantismus besser noch
als die Kirche. Daß die Presse, die sich fortschrittlich nennt,
irgendwie Aufklärung verbreite oder den Fortschritt fördere, das
glauben nur solche, die durch Zeitungslektüre bereits hoffnungslos
verdummt sind. Das Hauptargument für die "Berechtigung" oder
"Notwendigkeit" der Presse ist jetzt dieses, daß sie die liberalen
Institutionen in Schutz nehme. Nun, man mag über die liberalen
Institutionen denken wie man will; was würde aber - gesetzt, es wäre
wahr - der Schutz einzelner verbriefter (und trotz Presse meist eben
nur verbriefter) persönlicher Freiheiten bedeuten gegen die scheußliche
Tyrannei der Masse, welche gerade durch die Presse gefestigt und
geheiligt wird! Schließlich steckt hinter jedem liberalen Ding immer
ein Tyrann. Die öffentliche Meinung, die durch die Presse gemacht wird,
ist die schlimmste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit und die
illiberalste aller Institutionen. Die Presse wird immer den Erfolg
anbeten und - um selbst daran teilzunehmen - dem huldigen, der die
Macht hat oder dem, welchem die Macht winkt. Nein, die Presse hat
nichts mit der Freiheit zu tun, die "freiheitliche" am wenigsten! Und
mögen Präsidenten, Minister, Zelebritäten und Streber sie noch so oft
als segensreiche Macht verhimmeln! Sie wissen, warum sie's tun . . .
Aber der Mensch ist ein zähes Tier. Vielleicht wird die Presse sich
selbst ad absurdum führen und wie jener Frosch, der sich zum Ochsen
aufblähen wollte, krepieren, noch ehe der menschliche Intellekt und die
menschliche Würde ganz zu schanden werden. Eines aber wird schon in
kurzer Zeit unwiederbringlich verloren sein: das lebendige
Sprachgefühl. Der Tagschreiber, dem fast ausschließlich nur der Zufall
Artikel diktiert, der sich für alles interessieren muß und daher für
nichts interessiert, ist von vornherein zu einer affektierten
Schreibweise verurteilt. Er schreibt nicht als Fachmann eines Gebietes,
sondern über alles nach unzureichender Information. Er verwendet die
Termini und Formeln aller Berufe und Wissenszweige, ohne deren Sinn zu
kennen, er ist ein Ignorant, ein typischer Oberflächenmensch und drückt
sich daher am liebsten verschwommen und zweideutig aus. Da er immer
eine Parteimeinung zu verteidigen hat, ist seine Rede immer
übertrieben, ist er - nolens volens - ein Liebhaber des
Extrem-Expressiven. Er beherrscht, da er keinen eigenen Stil haben
kann, alle Stilarten und hetzt jedes klingende Wort erbarmungslos zu
Tode. Der Tagschreiber aber ist der einzige, der von einer ungeheuren
Majorität gelesen wird. Die totale Korruption des Wortes ist
unabwendbar, wenn es nur noch drei Generationen Tagschreiber und
Zeitungsleser geben wird. Denn die Zeitungsleser sind Wiederkäuer!
Anschaulicher als lange Reden es vermöchten, malt Nietzsches
Gedichtchen "Das Wort" - selbst ein sprachliches Kleinod - das
trübselige Geschick, mit dem Sprache und Wort von ihren Schmarotzern
und Würgern bedroht werden. Dem frommen Wunsch, in den es ausklingt,
stimmen alle besorgten Schützer der Kultur zu, denen der Tag nicht in
Morgen- und Abendblatt zerfällt:
"Pfui allen häßlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!"