Auszug aus „Deportiert” von Samuel Graumann, Wien 1947 |
März 1938 Den Juden in Österreich erging es schlecht. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen am 11. März 1938 setzte ihre Verfolgung ein. Die Nazibrut schwelgte in Orgien des Hasses und ließ ihren verbrecherischen Instinkten völlig freien Lauf. Trupps von SA, SS und der HJ marschierten unter wüsten Droh- und Schmährufen durch die Straßen und Gassen unserer österreichischen Heimat und veranstalteten Hetzjagden auf alte Männer, Frauen und Kinder. Die Juden galten als Freiwild. Man raubte ihnen ihr Eigentum, vertrieb sie aus ihren Wohnungen und nannte diese Verbrechen großzügig "Sicherstellung von jüdischem Eigentum" oder kurz "arisieren". In einigen Wiener Bezirken mußten die Juden mit Besenstangen und Gebetbüchern in den Händen auf der Straße tanzen. In der Praterstraße zwang ein SS-Mann einen jüdischen Möbelhändler, Pferdekot in den Mund zu stecken. Zwei Stunden später verübte die ganze Familie Selbstmord. SS-Männer trieben Juden in die Alte Donau, ließen sie bis zum Hals ins Wasser waten und brüllten dabei fortwährend: "Weg mit euch!" In der Provinz zeigten sich die gleichen Bilder. In Mödling sah ich, wie SA-Männer einen alten Mann in ein Schaufenster setzten, ihn mit schmähenden Aufschriften umgaben und ihm so lange Essen und Trinken entzogen, bis er ohnmächtig zusammenbrach. Nazis gingen von Geschäft zu Geschäft und schmierten mit brauner, roter oder schwarzer Farbe "Jude", "Kauft nicht bei Juden" und ähnliche Parolen auf die Scheiben der Auslagen. Dann stellten sie sich mit Hitler-Jungen und BdM-Mädchen vor die Geschäftseingänge und versuchten, etwaige Käufer durch Gewaltandrohungen am Betreten der Geschäfte zu hindern. Während allerhand Gesindel in schwarzen und braunen Uniformen raubte und plünderte, organisierten die preußischen Finanzräuber die Ausplünderung der österreichischen Wirtschaft. Dieser Vorgang sollte dem österreichischen Volke verborgen bleiben. Mit Pogromen und Hetzjagden versuchte man es abzulenken, mit Arisierungen zu korrumpieren. "Verdiente" Parteigenossen wurden als "kommissarische Leiter" für jüdische Geschäfte und Unternehmungen und zur "Sicherung jüdischen Vermögens" eingesetzt. Im Laufe dieser Arisierungen zwang man die Juden, ihren Besitz an diese kommissarischen Leiter oder an andere Nazis zu verschleudern. Weigerte sich ein Jude, so wurde für den nötigen Nachdruck schon gesorgt. Mit Hilfe dieser Praktiken, die an die Manieren der deutschen Raubritter erinnerten, plünderte man die österreichischen Juden völlig aus. Diese Ausplünderung aber war den Nazimachthabern noch viel zu wenig. Für sie galt es, die Juden unter maßlosen Qualen auch physisch zu vernichten. Fahrt
nach Buchenwald
Voll banger Ahnung hörten wir täglich die Radionachrichten und plötzlich stand uns das Herz still: Krieg zwischen Deutschland und Polen! Damit waren alle unsere Hoffnungen begraben und apathisch erwarteten wir die Ereignisse der nächsten Stunden. Es war am 11. September 1939, um sechs Uhr früh, da stellte sich unser jüngstes Kind in seinem Bettchen auf, sein Köpfchen umrahmt von braunen Löckchen, öffnete die Lippen und rief: "Pappi!" Ich stand auf, wärmte Milch, sättigte das elf Monate alte Kerlchen und legte es wieder schlafen. Plötzlich läutete es. Ich öffnete und vor mir stand ein gutgekleideter Mann von der Gestapo. Es dauerte eine Weile, bis er mir mitteilte, er habe den Auftrag, mich mitzunehmen. Ich umarmte meine Frau, küßte meine Tochter und meinen Buben zum letzten Male. Inzwischen durchsuchte der Gestapomann die Wohnung und raubte meiner Familie das letzte Geld und einige Schmuckstücke. Vor dem Tore stand ein Auto mit drei Insassen und einem SS-Mann am Steuer. Es ging auf kürzestem Wege zur Polizeidirektion. Kaum hatten wir dort den Flur betreten, ertönte das Kommando: "Auf die Knie!" So mußten wir durch den Korridor zur Vernehmung in die Kellerräume rutschen. Unten angelangt, mußte ich mich auf eine Bank setzen. Ein Polizist pflanzte sich vor mir auf und begann das Verhör. Er stellte alle möglichen Fragen nach Rassenschande, Homosexualität und ähnlichen ekelhaften Handlungen, die angeblich die Juden begehen sollten, obwohl schon damals die ganze Welt wußte, daß SA und SS nichts anderes als Homosexuellenvereine waren. Nach Beendigung dieses "Verhörs" wagte ich mich umzusehen. In den Kellerecken standen Gruppen von Juden, die unter dem Kommando von SS-Männern Kniebeugen machten, bis sie umfielen. Ein Jude kniete am Boden und ein SS-Mann zwang ihn das Blut seiner eigenen Wunden vom Boden aufzulecken. In einer anderen Ecke waren Friseure dabei, die Juden dadurch zu entstellen, daß sie ihnen Bart und Haare halbseitig schoren. Dabei wurde fleißig geschlagen und getreten. Ich selbst hatte das Glück, mit einem halbgeschorenen Kopf und einigen Fußtritten abgefertigt und in eine Zelle geführt zu werden. In meiner Zelle befanden sich schon zwanzig Mann, unter ihnen ein fünfzehnjähriger Junge, der immerfort nach seiner Mutter rief. Am Tische saß ein Mann und weinte; unaufhörlich kollerten die Tränen über seine Wangen. Ich ging auf ihn zu, tröstete und ermutigte ihn. Er erzählte mir, daß man auch ihn nachts aus dem Bett geholt hatte und er ein vollständig erblindeter Flüchtling, ehemaliger Professor am Berliner Konservatorium, sei. Nach einigen Tagen ühersiedelten wir aus dem Polizeigefängnis ins Stadion. Dort zog ich mir infolge der überaus schlechten sanitären Verhältnisse eine schwere Gelenksentzündung zu. In der Folge war ich gezwungen, zu liegen, und konnte mich nicht bewegen. Wohl hätte ich meine Überführung in das Inquisitenspital durchsetzen können, meine Mitgefangenen rieten mir jedoch davon ab, da dort die Behandlung noch schlechter sein sollte. Auf Grund von Gerüchten, die unter uns umgingen, glaubten wir alle, in ein Lager in der Nähe Wiens zur Arbeit überstellt zu werden. Vor dem Abtransport musterte man uns noch und schickte die Schwerkranken nach Hause. Mein blinder Freund wurde auch entlassen. Er küßte mich zum Abschied und sein erster Weg war zu meiner Familie, der er seit dieser Zeit Freund und Beschützer war. Der Versöhnungstag brach an und die Juden sangen in ihrer Not das berühmte "Kol-Nidere". Ich bin kein gläubiger Jude, aber dieser verhaltene Schrei von Hunderten, im uralten Seelenreinigungslied, drang tief in meine Seele. Einige Tage später erhielten wir den Befehl, uns zur Abfahrt bereit zu halten. Bis in die späte Nacht hinein dauerte der Namensaufruf. Ich saß da mit meinen zwei Stöcken und konnte mich kaum bewegen. Geschlossene Polizeiwagen nahmen uns auf und brachten uns zumWestbahnhof. Kaum hatten wir dort die Autos verlassen, sausten schon die Gummiknüttel der SS auf uns nieder. Mit den Stiefeln traten sie wahllos nach uns. Die Verladung begann. Zerschunden und blutig landete ich in einem vollgepreßten Viehwaggon. Meine Glieder schmerzten, aber es gelang mir, mich unter eine Bank zu legen. In dem Chaos war mir der kleine Eßvorrat, der für die Reise bestimmt war, verlorengegangen. Die Leidensgefährten stellten ihre Füße auf meinen Körper, nicht ahnend, daß unter der Bank ein Mensch lag. Es war heiß zum Ersticken. Wo einer konnte, hielt er den Mund an die Ritzen und Spalten des Waggons, nur um ein bißchen frische Luft zu erhaschen. Alle Notdurft wurde im Waggon verrichtet. Als im Gedränge jemand den Kübel umwarf, war die Luft derart verpestet, daß viele die Besinnung verloren. Der Mund war uns ausgetrocknet. Wir klopften an die Waggonwände und riefen um Wasser. Endlich erschien ein SS-Mann und traktierte uns mit dem Gummiknüttel. Wasser bekamen wir keines. Die Wahnsinnsanfälle der, 70 bis 80 Jahre alten Leute und ihre jämmerlichen Schreie waren furchtbar. Sie standen an den Türen und schrien immer wieder: "Laßt mich heraus zu meinen Kindern, ich will nicht hier bleiben!" Endlich begann der Zug zu fahren. Drei Tage dauerte diese qualvolle Reise. Während der ganzen Zeit war nicht einmal die Waggontür geöffnet worden. Endlich hielt der Zug und jemand rief: "Weimar aussteigen!" Nach dem Öffnen der Waggontüren erkannte kaum einer den anderen. Jeder von uns hatte tief eingefallene Augenhöhlen. Nach dem Verlassen des Zuges stürzten alle zur Wasserleitung, um zu trinken. Mit Bajonetten und Gewehrkolben jagte uns die SS zurück; nicht einmal das Wasser gönnte man uns. Bald wußten wir, wohin es ging. Wir befanden uns einige Kilometer von dem berüchtigten KZ Buchenwald entfernt. Ein Zug wurde formiert und dann setzten wir uns in Marsch. Dieser Marsch war entsetzlich. Alle fünf Schritte stand zu beiden Seiten des Weges ein SS-Posten. Wer von den alten Leuten nicht mitkonnte, auf den sausten die Kolbenschläge nieder; Blut und Gehirn spritzte umher. So trieb uns die SS durch Weimar, nach Buchenwald hinaus. Die Bevölkerung stand am Straßenrand und sah unbewegten Gesichts dem Treiben der SS zu. Auf keinem der Gesichter konnte man die leiseste Regung von Mitleid ersehen. Ob Goethe sein Weimar wieder erkannt hätte? Die auf diesem grauenvollen Marsch zahlreich Erschlagenen wurden an den Straßenrand gezerrt und dort liegengelassen. Ich fühlte plötzlich keine Schmerzen in meinen Beinen, ich hob sie gefühllos wie Stelzen und marschierte mit, bis endlich das Lager sichtbar wurde. Wir standen vor dem Lagereingang. Ein ziemlich langer, einstöckiger Bau mit einem großen Eisentor. Auf der Fassade stand in großen Buchstaben: "Recht oder Unrecht - mein Vaterland!" und am Eisentor: "Jedem das Seine!" Da sahen wir auch das erste Arbeitskommando, das einen bedrückenden Eindruck auf uns machte. Zwanzig Häftlinge zogen an Stricken und Ketten - wie Pferde im Gespann - einen großen, mit Schotter schwer beladenen Wagen. Daneben ging ein Vorarbeiter und kommandierte: "Links - zwei - drei - vier! Links - zwei - drei - vier!" Ich ahnte damals noch nicht, daß dieses Arbeitskommando trotz seiner Schwere meine Lebensrettung in Buchenwald sein würde. |