Prof. Dr. Drs. h.c. Erhard Roy Wiehn, M.A.
Wenn ich an meine Heimatstadt
Czernowitz zurückdenke, wird
mir warm und heimelig zumute. Bestimmt ist auch eine Art Nostalgie
dabei,
denn dort verging meine und meiner Freundinnen Kindheit und später die
sonnige, erst vom Zweiten Weltkrieg getrübte Jugend. Unter den Kindern,
die verschiedene Privatschulen wie die Meisler-, Comenius-, Kramer- und
Sofaivria-Schule
besuchten, herrschte eine gewisse Gemeinsamkeit, die in der Jugendzeit
intensiver
wurde.
Czernowitz war eine von vielen Juden bewohnte Stadt in der Bukowina,
die
mehr oder weniger ihr Einkommen hatten und ihren Kindern viel Schönes
boten, was das Leben interessant und lebenswert machte.
Den Sommer verbrachten wir oft in Kimpolung, einer kleinen, aber
wunderschön
gelegenen Stadt in den Karpaten. Auch Dorna, Eisenau, Jakobeni,
Gurahumora,
Wiczenka und Isvor waren in den Sommermonaten sehr besuchte und
beliebte
Orte. Viele derer, die in der Stadt blieben, fuhren zum Prut, wo man
sich
beim Gänsehäufel oder Venezia-Strand traf. Wie schön waren
diese unvergeßlichen Sommertage, wo man Volleyball spielte, im Prut
herumtollte, um die Wette schwamm und dann gemeinsam mit Freunden die
mitgebrachten
Wurst- und Schinkenbrote (von Steinmez oder Podsudek) wie auch allerlei
Obst
verschlang.
Der Winter mit Pulverschnee und mildem Klima brachte zauberhafte
Schlittenpartien
nach Cecina mit seinen schneebedeckten Wiesen und Wäldern, wo wir mit
Enthusiasmus Ski liefen. Die ältere Generation war mit ihren Schlitten
auch dabei. Sonntags von 8 bis 9 Uhr früh konnte man eine Menge junger
Leute in bunten Skianzügen, mit lustigen Wollmützen, Fäustlingen,
Goiserern (dicke Lederskischuhe) und Skiern ausgerüstet am Theaterplatz
sehen. Man versammelte sich dort und wartete ungeduldig, bis die vielen
Schlitten
ankamen, in denen wir es uns bequem machten. Es war ein eigentümliches
Fuhrwerk, das aus Kufen mit einer riesigen Holzplatte darauf bestand.
Wir
saßen zu ungefähr 10 bis 15 Personen eng nebeneinander. Die Füße
ließen wir herunterhängen und auf dem freien Platz, der sich in
der Mitte der Platte befand, stapelten wir alle unsere Skier auf. Die
Kutscher
trieben die Pferde an, und mit Lachen und Johlen setzte sich die
Karawane
in Bewegung. Am Ziel angelangt, schnallte jeder seine Skier an, und man
begab
sich auf die Übungswiese, die plötzlich wie mit vielen farbigen
Käfern übersät war.
Ich erinnere mich lebhaft an diese Übungswiese, wo man „Kristiania”
und „Telemark” üben konnte. Man steckte die Skistöcke in den Schnee
und lernte Slalom laufen. Für Anfänger gab es die Kotlerwiese,
die von den besseren Läufern mit Herablassung „ldiotenwiese” genannt
wurde. Es herrschte eine unbesonnene, fröhliche Stimmung. Die Bäume
am Waldrand waren mit blendendem Schnee bedeckt und die malerischen,
vom
Frost erstarrten Zweige sahen so aus als ob sie uns ihre mit weißer
Spitze umhüllten Arme einladend entgegenstrecken würden.
Wenn der Magen leise zu knurren begann, machte man sich gruppenweise zu
„Hans”
und „Strobel”, den naheliegenden Herbergen auf, wo man den Duft von
Krenwürstchen,
Sauerkraut und Bratkartoffeln schon aus der Ferne spürte. Die Skier
wurden geschickt abgeschnallt, an die Verandawand des Bauernhauses
gelehnt,
und schon trat man in den von Ausflüglern wimmelnden, warmen Raum. Wir
saßen auf Holzbänken, ganz nah nebeneinander an langen Tischen
und machten unsere Bestellungen. Mit unbeschreiblichem Genuß haben
wir diese einfachen, aber ganz wunderbar schmeckenden Speisen vertilgt.
Über
die bekannte Waldtour und den Hohlweg konnte man auf Skiern zurück nach
Czernowitz kommen.
Einmal trat ich mit meinem Freund die Waldtour an, die immer bergab
ging
und durch Streletzki Kut bis zum Prut, zur letzten Tram-Haltestelle
führte.
Wir waren guter Laune, und als wir zweimal einen steilen, doch
verlockenden
Hang hinuntergeglitten waren, hatte ich vor lauter Übermut noch nicht
genug. Scherzend aber eigensinnig wollte ich die Tour noch einmal
machen.
Mutig kraxelte ich den Berg hinauf und ohne mir viel Zeit zu lassen,
glitt
ich zum dritten Mal hinunter. Mein Freund erwartete mich lachend, doch
ich
schoß an ihm vorbei, stolperte über einen Ast, - es gab einen
leisen Knax, und schon lag ich am Boden, eine Schneewolke um mich
aufwirbelnd.
Da mir nach dem Fall nichts weh tat, wollte ich aufstehen, doch es ging
nicht!
Den rechten Fuß konnte ich leichter aus dem Schnee ziehen, denn der
Ski war zerbrochen. Da war guter Rat teuer. Der Schnee war tief, und
man
konnte nur mit Skiern vorwärts kommen. Auch war es noch ziemlich weit
bis ans Endziel. Ohne den Mut zu verlieren, glückte es uns, auf drei
Skiern gleitend - ich natürlich von hinten mich an meinen Freund
klammernd
- diese Waldtour zu beenden.
Auch war ich sehr stolz darauf, daß meine Freunde mich manchmal auf
den Hohlweg mitnahmen. Bevor wir diese Tour zum Rückweg antraten,
standen
wir scherzend und auch Mut schöpfend auf unseren Skiern im Kreis, und
unser guter Udo verteilte jedem von uns ein Stückchen Schokolade, ein
Viertel einer Apfelsine und einen Schluck Kognak. Dann begann der
Abstieg.
In Revna (ein kleines Dorf bei Czernowitz) angekommen, mieteten wir
Schlitten,
und uns an Stricken festhaltend, machten wir Skijöring (norweg.
Skifahren,
von einem Pferd oder Motorrad gezogen) bis zum Prut.
Abends, nach einem wohltuenden Bad, ließen die Gliederschmerzen nach.
Dann sahen wir uns wieder, um bei einer Tasse Kaffee und einem Tango
den
schönen Sonntag zu beschließen. Manchmal trafen wir uns noch am
„Sinaia-Eislaufplatz”, wo wir bei Walzerklängen noch eine Weile Hand
in Hand den Platz umkreisten, um mit der „Mühle” oder der „Kette” den
Abend zu beenden.
In so manchen schwierigen Situationen meines späteren Lebens tauchten
oft viele Bilder meiner so schön verbrachten glücklichen Jugendjahre
vor meinem geistigen Auge auf. Sie waren wie ein Kraftstrom und gaben
mir
Mut und Ausdauer zum Durchhalten. Wir hatten aller Gewalt zum Trotz die
Hoffnung,
einst Freunde und Kameraden der Jugendzeit wiederzufinden. Ich vergaß
die Gegenwart, schwebte in der Vergangenheit und hoffte auf eine
bessere
Zukunft. Ich danke heute dem Schicksal, daß es keine trügerische
Hoffnung war. Als ich Ende 1990 nach Israel einwanderte, traf ich hier
die
Wärme meiner ehemaligen Mitschülerinnen und Freunde, die mich mit
Zärtlichkeit und Interesse aufnahmen. Ich begriff, daß uns nach
fünfzig Jahren Trennung, nach schweren Verlusten und Schicksalswirren,
unsere Freundschaft erhalten geblieben war.
Deshalb gibt es eine seltsame Zusammengehörigkeit mit Menschen, mit
denen wir so einmalig und unvergeßlich unsere Jugend teilten, obwohl
wir schon alt und grau sind. Auf der ganzen Welt sind Czernowitzer
anzutreffen,
und wenn sie hierher nach Israel kommen, suchen sie einander auf, und
in
den leuchtenden Augen und an dem wieder kindlich lächelnden Mund
erkennt
man etwas, das einen an Jugendfreundschaft und die Heimatstadt
Czernowitz
mit viel Wärme erinnert und bindet.