Am östlichen Fenster
Margit Bartfeld-Feller


Margit Bartfeld-Feller

Auszug mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers

Prof. Dr. Drs. h.c. Erhard Roy Wiehn, M.A.


Czernowitz nur ein Traum

Wenn ich an meine Heimatstadt Czernowitz zurückdenke, wird mir warm und heimelig zumute. Bestimmt ist auch eine Art Nostalgie dabei, denn dort verging meine und meiner Freundinnen Kindheit und später die sonnige, erst vom Zweiten Weltkrieg getrübte Jugend. Unter den Kindern, die verschiedene Privatschulen wie die Meisler-, Comenius-, Kramer- und Sofaivria-Schule besuchten, herrschte eine gewisse Gemeinsamkeit, die in der Jugendzeit intensiver wurde.
Czernowitz war eine von vielen Juden bewohnte Stadt in der Bukowina, die mehr oder weniger ihr Einkommen hatten und ihren Kindern viel Schönes boten, was das Leben interessant und lebenswert machte.
Den Sommer verbrachten wir oft in Kimpolung, einer kleinen, aber wunderschön gelegenen Stadt in den Karpaten. Auch Dorna, Eisenau, Jakobeni, Gurahumora, Wiczenka und Isvor waren in den Sommermonaten sehr besuchte und beliebte Orte. Viele derer, die in der Stadt blieben, fuhren zum Prut, wo man sich beim Gänsehäufel oder Venezia-Strand traf. Wie schön waren diese unvergeßlichen Sommertage, wo man Volleyball spielte, im Prut herumtollte, um die Wette schwamm und dann gemeinsam mit Freunden die mitgebrachten Wurst- und Schinkenbrote (von Steinmez oder Podsudek) wie auch allerlei Obst verschlang.
Der Winter mit Pulverschnee und mildem Klima brachte zauberhafte Schlittenpartien nach Cecina mit seinen schneebedeckten Wiesen und Wäldern, wo wir mit Enthusiasmus Ski liefen. Die ältere Generation war mit ihren Schlitten auch dabei. Sonntags von 8 bis 9 Uhr früh konnte man eine Menge junger Leute in bunten Skianzügen, mit lustigen Wollmützen, Fäustlingen, Goiserern (dicke Lederskischuhe) und Skiern ausgerüstet am Theaterplatz sehen. Man versammelte sich dort und wartete ungeduldig, bis die vielen Schlitten ankamen, in denen wir es uns bequem machten. Es war ein eigentümliches Fuhrwerk, das aus Kufen mit einer riesigen Holzplatte darauf bestand. Wir saßen zu ungefähr 10 bis 15 Personen eng nebeneinander. Die Füße ließen wir herunterhängen und auf dem freien Platz, der sich in der Mitte der Platte befand, stapelten wir alle unsere Skier auf. Die Kutscher trieben die Pferde an, und mit Lachen und Johlen setzte sich die Karawane in Bewegung. Am Ziel angelangt, schnallte jeder seine Skier an, und man begab sich auf die Übungswiese, die plötzlich wie mit vielen farbigen Käfern übersät war.
Ich erinnere mich lebhaft an diese Übungswiese, wo man „Kristiania” und „Telemark” üben konnte. Man steckte die Skistöcke in den Schnee und lernte Slalom laufen. Für Anfänger gab es die Kotlerwiese, die von den besseren Läufern mit Herablassung „ldiotenwiese” genannt wurde. Es herrschte eine unbesonnene, fröhliche Stimmung. Die Bäume am Waldrand waren mit blendendem Schnee bedeckt und die malerischen, vom Frost erstarrten Zweige sahen so aus als ob sie uns ihre mit weißer Spitze umhüllten Arme einladend entgegenstrecken würden.
Wenn der Magen leise zu knurren begann, machte man sich gruppenweise zu „Hans” und „Strobel”, den naheliegenden Herbergen auf, wo man den Duft von Krenwürstchen, Sauerkraut und Bratkartoffeln schon aus der Ferne spürte. Die Skier wurden geschickt abgeschnallt, an die Verandawand des Bauernhauses gelehnt, und schon trat man in den von Ausflüglern wimmelnden, warmen Raum. Wir saßen auf Holzbänken, ganz nah nebeneinander an langen Tischen und machten unsere Bestellungen. Mit unbeschreiblichem Genuß haben wir diese einfachen, aber ganz wunderbar schmeckenden Speisen vertilgt. Über die bekannte Waldtour und den Hohlweg konnte man auf Skiern zurück nach Czernowitz kommen.
Einmal trat ich mit meinem Freund die Waldtour an, die immer bergab ging und durch Streletzki Kut bis zum Prut, zur letzten Tram-Haltestelle führte. Wir waren guter Laune, und als wir zweimal einen steilen, doch verlockenden Hang hinuntergeglitten waren, hatte ich vor lauter Übermut noch nicht genug. Scherzend aber eigensinnig wollte ich die Tour noch einmal machen. Mutig kraxelte ich den Berg hinauf und ohne mir viel Zeit zu lassen, glitt ich zum dritten Mal hinunter. Mein Freund erwartete mich lachend, doch ich schoß an ihm vorbei, stolperte über einen Ast, - es gab einen leisen Knax, und schon lag ich am Boden, eine Schneewolke um mich aufwirbelnd. Da mir nach dem Fall nichts weh tat, wollte ich aufstehen, doch es ging nicht! Den rechten Fuß konnte ich leichter aus dem Schnee ziehen, denn der Ski war zerbrochen. Da war guter Rat teuer. Der Schnee war tief, und man konnte nur mit Skiern vorwärts kommen. Auch war es noch ziemlich weit bis ans Endziel. Ohne den Mut zu verlieren, glückte es uns, auf drei Skiern gleitend - ich natürlich von hinten mich an meinen Freund klammernd - diese Waldtour zu beenden.
Auch war ich sehr stolz darauf, daß meine Freunde mich manchmal auf den Hohlweg mitnahmen. Bevor wir diese Tour zum Rückweg antraten, standen wir scherzend und auch Mut schöpfend auf unseren Skiern im Kreis, und unser guter Udo verteilte jedem von uns ein Stückchen Schokolade, ein Viertel einer Apfelsine und einen Schluck Kognak. Dann begann der Abstieg. In Revna (ein kleines Dorf bei Czernowitz) angekommen, mieteten wir Schlitten, und uns an Stricken festhaltend, machten wir Skijöring (norweg. Skifahren, von einem Pferd oder Motorrad gezogen) bis zum Prut.
Abends, nach einem wohltuenden Bad, ließen die Gliederschmerzen nach. Dann sahen wir uns wieder, um bei einer Tasse Kaffee und einem Tango den schönen Sonntag zu beschließen. Manchmal trafen wir uns noch am „Sinaia-Eislaufplatz”, wo wir bei Walzerklängen noch eine Weile Hand in Hand den Platz umkreisten, um mit der „Mühle” oder der „Kette” den Abend zu beenden.
In so manchen schwierigen Situationen meines späteren Lebens tauchten oft viele Bilder meiner so schön verbrachten glücklichen Jugendjahre vor meinem geistigen Auge auf. Sie waren wie ein Kraftstrom und gaben mir Mut und Ausdauer zum Durchhalten. Wir hatten aller Gewalt zum Trotz die Hoffnung, einst Freunde und Kameraden der Jugendzeit wiederzufinden. Ich vergaß die Gegenwart, schwebte in der Vergangenheit und hoffte auf eine bessere Zukunft. Ich danke heute dem Schicksal, daß es keine trügerische Hoffnung war. Als ich Ende 1990 nach Israel einwanderte, traf ich hier die Wärme meiner ehemaligen Mitschülerinnen und Freunde, die mich mit Zärtlichkeit und Interesse aufnahmen. Ich begriff, daß uns nach fünfzig Jahren Trennung, nach schweren Verlusten und Schicksalswirren, unsere Freundschaft erhalten geblieben war.
Deshalb gibt es eine seltsame Zusammengehörigkeit mit Menschen, mit denen wir so einmalig und unvergeßlich unsere Jugend teilten, obwohl wir schon alt und grau sind. Auf der ganzen Welt sind Czernowitzer anzutreffen, und wenn sie hierher nach Israel kommen, suchen sie einander auf, und in den leuchtenden Augen und an dem wieder kindlich lächelnden Mund erkennt man etwas, das einen an Jugendfreundschaft und die Heimatstadt Czernowitz mit viel Wärme erinnert und bindet.



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